Wer war Leoš Janáček?

Der Komponist, Pädagoge, Dirigent, Pianist, Schriftsteller und Folklorist Leoš Janáček (1854–1928) zählt zu den bemerkenswertesten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Wenngleich er von seinem Geburtsjahr her eher zur Generation Antonín Dvořáks gehört, zählen seine Kompositionen zum Progressivsten, was in der Musik des vergangenen Jahrhunderts entstanden ist. Zu Recht stand Janáček im Alter von rund siebzig Jahren in einer Reihe mit Komponisten wie Arnold Schönberg, Alban Berg oder Igor Strawinsky, die eine oder zwei Generationen jünger waren als er. Doch auch wenn er in seinen letzten Jahren zu einem der meistbeachteten Komponisten avancierte, blieb sein Leben stets mit der Stadt Brno verbunden. Die enge Beziehung Janáčeks zu dieser Stadt resultiert nicht nur daraus, dass er hier den größten Teil seines Lebens verbracht hat, er hat vielmehr vor allem durch seine unermüdliche Tätigkeit als Dirigent, Pädagoge und Organisator dem Kulturleben dieser Stadt wesentlichen Auftrieb gegeben und ihm so für viele weitere Jahre seinen Stempel aufgedrückt. Wenn wir noch die Tatsache berücksichtigen, dass die meisten Werke Janáčeks  gerade in Brno ihre Uraufführung erlebten, wird offensichtlich, wie tief das Zusammenleben des Komponisten und seiner Stadt reichte.

Nach Brünn kam Janáček im Jahr 1865 im Alter von elf Jahren aus seinem Geburtsort Hukvaldy. Sein Vater hatte ihn in die Schulstiftung des Augustinerklosters Sankt Thomas in Alt-Brünn geschickt. An der Spitze des Klosters stand damals der aufgeklärte Abt Cyrill Napp, und es wirkten hier Persönlichkeiten wie der Komponist Pavel Křížkovský, der Begründer der Erblehre Gregor Johann Mendel oder der Philosoph, Dichter und Journalist František Matouš Klácel. Die Blaukehlchen, wie die Alt-Brünner Stiftungsschüler damals wegen ihrer hellblauen Anzüge genannt wurden, waren musikalisch begabte Knaben, die eine gründliche musikalische Ausbildung erhielten, damit sie bei Aufführungen im Kloster und bei Konzerten mitwirken konnten.

Später setzte Janáček seine Ausbildung an der deutschen Realschule und an der Brünner Lehrerbildungsanstalt fort. Nach der Matura im Jahr 1874 blieb er als Aushilfslehrer weiter an der Bildungsanstalt tätig. Daneben wirkte er als Chorleiter und Dirigent beim Handwerkerbund Svatopluk (1873–1876) und beim Philharmonischen Verein Beseda brněnská (1876–1888).

Die Beseda brněnská wurde in jenen Jahren zu einem bedeutenden Klangkörper, mit dem er als Dirigent Mozarts Requiem, Beethovens Missa solemnis oder Dvořáks Stabat mater aufführen konnte.

Zu dieser Zeit hatte der junge Janáček auch bereits zu komponieren begonnen und entfernte sich zusehends von der für ihn vorgesehenen Lehrerlaufbahn. Er bemühte sich um eine weitere Vertiefung seiner musikalischen Ausbildung. Nachdem er 1874 an die Prager Orgelschule aufgenommen worden war, studierte er in den Jahren 1879–1880 kurzzeitig noch am Leipziger und anschließend am Wiener Konservatorium, wo es für ihn jedoch, wie er später bemerkte, „nichts mehr weiter zu lernen“ gab.

Wenige Monate nach seiner Rückkehr heiratete Janáček im Jahr 1881 Zdenka Schulzová, die Tochter des Direktors der Lehrerbildungsanstalt. Die Ehe war nicht gerade glücklich, die erste ernsthafte Krise stellte sich schon kurz nach der Hochzeit ein, und auch die Geburt ihrer Tochter Olga konnte die Wogen nicht glätten. Zu jener Zeit war Janáček mit seiner Arbeit mehr als ausgelastet. Neben allen bisherigen beruflichen Pflichten wirkte er ab 1881 auch als Direktor und gleichzeitig als Lehrer der neu gegründeten Brünner Orgelschule, die auf seine Initiative hin entstanden war. Hinzu kamen seine Aktivitäten in der Genossenschaft des tschechischen Nationaltheaters in Brünn, im Russischen Kreis oder im Klub der Kunstfreunde.

Er begründete und publizierte die Hudební listy, die erste Musikzeitschrift in Mähren, und schrieb Kritiken und Feuilletons für die Tageszeitung Lidové noviny. Ab 1888 widmete er sich intensiv dem Studium von Volksliedern und Volkstänzen, die er vielfach direkt vor Ort erkundete und schriftlich festhielt. Zum Thema der Folklore verfasste er mehrere tiefgreifende theoretische Arbeiten, und zusammen mit František Bartoš gab er die Liedsammlung Ein Strauß mährischer Volkslieder heraus.

Im Jahr 1890 mussten Janáček und seine Frau einen schweren Schicksalsschlag verkraften, als ihr Sohn Vladimír im Alter von zwei Jahren starb. Zu Beginn der neunziger Jahre stand Janáčeks Schaffen ganz im Zeichen der mährischen Folklore. Es entstanden zahlreiche Adaptionen von Volksliedern und Volkstänzen, die stilisierten Walachischen Tänze für Orchester, das durch die Folklore der Mährischen Slowakei inspirierte Ballett Rákoš Rákoczy und die einaktige Oper Anfang eines Romans. Neben seinen Volksliedforschungen begann sich Janáček für die menschliche Psyche und ihren Einfluss auf den sprachlichen Ausdruck zu interessieren, den er als eine Art „Fenster zu menschlichen Seele“ betrachtete. Die Sprachmelodien, wie er sie nannte, waren für Janáček Ausdruck des Charakters und der momentanen Stimmung eines Menschen. Er war überzeugt davon, die menschliche Sprache mit Hilfe der Notenschrift objektiv erfassen zu können. Mit der Aufzeichnung seiner Sprachmelodien begann er 1897, und er blieb diesem Steckenpferd mehr oder weniger sein Leben lang treu. Doch notierte er nicht nur menschliche Äußerungen – unter den mehr als dreitausend aufgezeichneten Melodien finden wir auch Hundegebell, das Summen von Mücken und Bienen oder das Knarren von Holzdielen.

Neue Kompositionswege beschritt Janáček bei der in der mährischen Provinz angesiedelten Oper Jenůfa nach einem Drama von Gabriela Preissová. Mit dieser auf einem Prosatext basierenden Oper fand Janáček zu einem ganz eigenen musikalischen Ausdruck. Schritt für Schritt verließ er das traditionelle Opernschema mit in sich abgeschlossenen Auftritten und Arien, im Orchester erscheinen charakteristische rhythmische Ostinati, modale Tongebilde, gänzlich neu ist die musikalische Diktion der Gesangsparte der einzelnen Figuren, bei denen er von seinen Erfahrungen aus dem Studium der menschlichen Sprache ausging. Nach fast zehn Jahren vollendete Janáček seine Oper im Jahr 1903. Die Arbeit an Jenůfa war überschattet durch Janáčeks Sorge um seine Tochter Olga, deren Gesundheitszustand sich zusehends verschlechterte. Gerade als er die Oper vollendet hatte, ereilte ihn der schwerste Schicksalsschlag seines Lebens, als Olga im Alter von einundzwanzig Jahren starb. Nachdem das Prager Nationaltheater die Aufführung der Oper Jenůfa abgelehnt hatte, erlebte sie am 21. Januar 1904 ihre erfolgreiche Uraufführung am Brünner Nationaltheater. Bislang war Janáček in der Öffentlichkeit vor allem als Schulleiter und Pädagoge und nur am Rande als Komponist wahrgenommen worden, dessen schöpferische Tätigkeit man einzig in Brünn verfolgen konnte. Daher war ihm sehr an der Gunst der Prager Kunstkreise und dem Kontakt mit dem dortigen Musikleben gelegen. Auf beides musste er jedoch noch weitere zwölf Jahre warten. Nach der Brünner Premiere von Jenůfa ließ sich Janáček pensionieren, um sich fortan ganz seiner Orgelschule und der Kompositionsarbeit widmen zu können. Zu jener Zeit begannen auch seine regelmäßigen Besuche im „slawischen“ Heilbad Luhačovice.

Bei einem seiner Kuraufenthalte lernte Janáček Kamila Urválková kennen, deren Lebensgeschichte zur Vorlage für Janáčeks vierte Oper Schicksal werden sollte. Allerdings gelangte  dieses neue Werk, welches am neuen Prager Stadttheater in den Weinbergen einstudiert werden sollte, letztendlich zu seinen Lebzeiten nie zur Aufführung.

Außerhalb von Brünn war Janáček bis dahin vor allem für seine Chorwerke bekannt. Für den herausragenden Sängerbund der mährischen Lehrer mit seinem Chorleiter Ferdinand Vach und für den Pilsener Smetana-Chor komponierte er seine Chöre Kantor Halfar, Maryčka Magdonova a 70.000 nach Texten von Petr Bezruč. In der Zeit zwischen der Brünner und der Prager Premiere von Jenůfa entstanden unter anderem weitere Teile des lyrischen Klavierzyklus Auf verwachsenem Pfade, der Zyklus Im Nebel, die orchestrale Ballade Des Spielmanns Kind, die Kantate Das ewige Evangelium oder die erste Fassung der symphonischen Rhapsodie Taras Bulba.

In jener Zeit gab der Komponist die Hoffnung auf eine Aufführung der Oper Jenůfa in Prag auf und verlor zunehmend auch den Glauben an sich selbst.

Nach jahrelanger Ablehnung gelang es 1916 endlich, Jenůfa am Prager Nationaltheater zur Aufführung zur bringen, wo die Oper auf enorme Resonanz stieß. Befeuert durch diesen Erfolg in Prag begann der zweiundsechzigjährige Janáček geradezu fieberhaft zu komponieren. Er konnte die schon früher begonnene Oper Die Ausflüge des Herrn Brouček fertigstellen und begann die Arbeit an dem Kammerwerk Tagebuch eines Verschollenen. Um Janáčeks Ruf als eines anerkennten Komponisten machten sich durch ihr Interesse Max Brod und die renommierte Universal Edition verdient. Den internationalen Durchbruch brachte Janáček die Aufführung seiner Oper Jenůfa an der Wiener Hofoper im Jahr 1918, durch die er mit einem Mal zu den führenden europäischen Komponisten zählte. Die Gründung der Tschechoslowakischen Republik im Herbst 1918 erlebte Janáček als anerkannter Komponist voller Schaffenskraft und Zukunftspläne.

Die letzten zehn Lebensjahre Janáčeks waren seine fruchtbarste Schaffensperiode. Die ungeahnte Dynamik und die Energie, die der Komponist auf seine alten Tage versprühte, lassen sich unter anderem auf die Beziehung zu seiner Freundin und Muse Kamila Stösslová zurückführen. Viele seiner Werke sind unmittelbar durch sie inspiriert, wie er auch ganz unverhohlen eingestand – so etwa das Tagebuch eines Verschollenen, die Oper Katja Kabanowa oder das Streichquartett Intime Briefe. Die Brünner Orgelschule wandelte er in ein Konservatorium um, er wurde zum Professor der Meisterschule für Komposition des Prager Konservatoriums ernannt, zum Vorsitzenden des Klubs mährischer Komponisten gewählt, und 1925 wurde ihm das erste Ehrendoktorat in der Geschichte der Masaryk-Universität verliehen. Im Jahr 1927 wurde er zusammen mit Arnold Schönberg und Paul Hindemith zum Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften ernannt, und im selben Jahr zeichnete ihn der belgische König Albert – unter dem Eindruck des großen Erfolgs der Oper Jenůfa in Antwerpen – mit dem Leopoldsorden aus. Alle früheren Hürden und Hindernisse, die Janáček von einer intensiveren Kompositionstätigkeit abgehalten hatten, waren verschwunden, und die Erfolge seiner Werke im In- und Ausland regten ihn zu immer weiteren neuen Kompositionen an. In den zwanziger Jahren entstanden unter anderem seine Kammerwerke Die Jugend, Concertino und Capriccio, zwei Streichquartette, die orchestrale Blaník-Ballade, die Sinfonietta oder die Glagolitische Messe. In rascher Folge komponierte er schließlich seine bedeutendsten musikdramatischen Werke Katja Kabanowa, Das schlaue Füchslein, Die Sache Makropulos und Aus einem Totenhaus. Je älter Janáček wurde, desto jünger und expressiver wurde seine Musik. Doch das rasante Leben eines Komponisten auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft fand ein jähes Ende. Ende Juli 1928 fuhr Janáček in seinen Geburtsort Hukvaldy, wo ihn auch Kamila mit ihrem Sohn besuchte. Er hatte eine Abschrift der Partitur zur Oper Aus einem Totenhaus dabei, an der er noch Korrekturen und Ergänzungen vornehmen wollte. Die Vollendung seiner Arbeit war ihm jedoch nicht mehr vergönnt. Mit einer starken Erkältung wurde er in ein Sanatorium in Ostrava eingeliefert, wo er am 12. August 1928 einer akuten Lungenentzündung erlag. Er wurde auf dem Brünner Zentralfriedhof beigesetzt.

Autor: Jiří Zahrádka